Dieter Leistner
2. November 1952 – 24. September 2022
ein Portrait von Klaus Klemp
Dass man „Äpfel und Birnen“ (die nicht näher bezeichneten Zitate von Dieter Leistner stammen zum Teil aus einem Interview mit Andy Scholz am 16.Juni 2017 im Kloster Windberg während eines Fotografie-Workshops) anders als im Sprichwort durchaus miteinander vergleichen kann und dabei zu überraschenden Ergebnissen kommt, war eine der Leidenschaften des Fotografen Dieter Leistner. 1952 wurde er in Salzgitter geboren. Das ist eine ehemalige Stahlstadt mit Arbeitskultur, in der Klartext gesprochen wurde. Das prägte. Nach der Schule folgte zunächst eine handfeste Tischlerlehre mit mehrjähriger Gesellenzeit. Das prägte auch und war vormals die Grundausbildung für viele bekannte Designer, wie Marcel Breuer oder Dieter Rams und selbst für Philosophen wie Karl Popper. Hands on gibt wohl eine gewisse Bodenhaftung.
Der Vater hätte es gerne gesehen, wenn er die elterliche Tischlerwerkstatt übernommen hätte. Aber Leistner Junior hatte einen anderen Traum. Und nach der Pflicht kam die Kür und die hieß Fotografie. Sein erstes Foto entstand mit acht Jahren auf Sylt. Das elterliche Auto, ein Campingtisch mit Stühlen und ein Zelt. Kein Urlaubsfoto mit lächelnden Eltern, sondern nur die Dinge ohne Menschen. Wer will, kann das als Erweckungserlebnis des jungen Knaben sehen. Er hat es jedenfalls später mit Vergnügen auf seine Website als Fotografieprofessor gestellt.
Vom niedersächsischen Geburtsort führte der Weg ins ebenfalls industriedominierte Saarland, um das Abitur nachzuholen und dann ins Rheinland und Ruhrgebiet, zum Studium des Fotoingenieurwesens und der Visuellen Kommunikation von 1978 bis 1984 in Köln und Wuppertal bei Willy Fleckhaus, Günter Kieser und Bazon Brock, sowie anschließend der Fotografie an der Folkwangschule in Essen bei Robert Lebeck und Reinhart Wolf. Mit seiner Abschlussarbeit, einer umfangreichen Serie von Badetempeln in streng frontalen Innenraumansichten öffentlicher Hallenbäder der Gründerzeit und des Jugendstils, fand Leistner dann auch schon die Architektur als sein Thema. Durchaus auch einmal mit einem subtilen Humor, wenn er das stillgelegte Stadtbad am Berliner Prenzlauer Berg als Paketlager zeigte. 1993 ist das Projekt als Bildband im renommierten Architekturverlag Ernst & Sohn erschienen und ein Jahr später in einer englischen Ausgabe in London. Sein fotografisches Gesellenstück war dabei gleich der Auftakt zu einer auch internationalen Kariere als Architekturfotograf. Aufträge folgten. Leistner Senior hatte noch vor einer brotlosen Kunst gewarnt. „Ich bin aber sehr zufrieden mit dieser brotlosen Kunst“, sagte der erfolgreiche Junior später. Dieter Leistner war alles andere als nur ein Auftragsfotograf. Immer hat er eigene Themen verfolgt und sie nicht selten in Aufträge eingemischt. Oder sie waren Anlass für Aufträge. Leistner hatte damit kein Problem.
Seine späteren Aufblicke lieferten dann den fotografischen Meistertitel nach. Entstanden in einem steilen Blick nach oben, vermittelten sie eine neue Sicht auf Architektur, die man beiläufig nicht wahrnimmt, die aber zum Wesen von Räumen dazugehört. Deckenmalereien haben eine lange Tradition und einen Höhepunkt in der Renaissance und im Barock und gaben den Blick auf eine andere Welt frei. Es sei nur an die Sixtina von Michelangelo gedacht. Leistner zeigte in seinem Langzeitprojekt, wie in den säkularen Bauten der Moderne neue, abstrakte Welten aufscheinen. Nicht zuletzt in Bankgebäuden. Den Vergleich zur Geschichte kann sich der Betrachter dann selber denken. Leistners Interpretationen von Architektur waren immer subtil und hintergründig, nie plakativ.
Seit 1985, gleich nach seinem Diplom, folgten zahlreiche Lehraufträge und Vorträge: An den Kunstakademien in Mainz und Stuttgart, den Fachhochschulen Bielefeld, Darmstadt, Dortmund, Hamburg, Hildesheim, Mainz und Potsdam, an den Universitäten in Weimar, München, Stuttgart, Essen und Wuppertal, an den Goethe-Instituten in Chicago, New York, Bangkog, Toronto und Moskau; am Moskauer Architekturinstitut (MARCHI), am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, an den Museen für Angewandte Kunst in Frankfurt und Köln, am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt oder bei „Paris Photo“.
Dieter Leistner war nicht nur ein herausragender Fotograf, sondern jemand der auch strategisch mit seinen Auftraggebern vorzugehen wusste. Und das auf ganz besondere Art und Weise. Er hatte seine Haltung und er wusste wie sie bei Auftraggebern angebracht werden konnte. Dabei hat er für viele bekannte Architekten gearbeitet, für Gottfried Böhm, Gustav Peichl, Richard Meier, Thomas Herzog, Heinz Bienefeld, Johannes Peter Hölzinger oder Oswald Mathias Ungers. Sehr gute Architekten und sehr gute Fotografen sind Künstlern nicht unähnlich, was üblicherweise zwangsläufig zu einem gewissen Konflikt führt. Jeder weiß genau, wie es gehen soll mit dem Bild von der Architektur und selbstverständlich weiß das nur er selbst. Das führt in der Regel zu Streit und Stress, oft auch zum Ende der Zusammenarbeit.
Dieter Leistner hatte da eine andere Strategie. Er hat sich alle Vorschläge der Architekten beim Rundgang angehört, nichts kommentiert, sondern vorgeschlagen, erst einmal zum Mittagessen zu gehen. Das war dann auf anderer Ebene vertrauensbildend. Schließlich hat er die Fotos genauso gemacht, wie er es richtig fand. Der beauftragende Architekt hat es zumeist gar nicht bemerkt, wenn seine Ideen nicht berücksichtigt wurden, und wenn doch, dann pflegte Dieter mit treuem Blick zu sagen: „Aber schau mal, das ist doch ein schönes Foto.“ So war es dann auch akzeptiert. Schwer seinem Charme und seiner Aufrichtigkeit nicht zu erliegen.
Auch bei zahlungsanhängigen Kunden wusste er schon einmal mit seinen kleinen Kindern zu einem freundlichen Besuch in dessen Bibliothek aufzutauchen, die dann gerne alle erreichbaren Bücher aus dem Regal zogen. Bis schließlich der Säumige endlich den Scheck zückte, um die penetrante Meute wieder loszuwerden.
Es gibt viele solcher Anekdoten, die Dieter gerne erzählt hat, die aber in Wirklichkeit keine Anekdoten waren, sondern eine ebenso freundliche wie effektive Strategie, seine Anliegen durchzusetzen, ohne vor dem Kadi zu landen.
Viele Architekten, Designer und Künstler hat er portraitiert: Gottfried Böhm, James Lee Byars, Daniel Buren, Konstantin Gricic, Zaha Hadid, Harry Kupfer, Marcus Lüpertz, Gerard Mortier, Richard Meier, Arnulf Reiner, Oswald Mathias Ungers und selbst das Model Claudia Schiffer und den Architekturhistoriker Heinrich Klotz. Das war die zweite Seite seines Interesses an der Architektur, die weniger beachtet wird, aber zur ersten dazugehört und nicht weniger überzeugt hat. Architektur fällt nicht vom Himmel, sondern hat einen Urheber und eine Urheberin. Und seine Portraits sagen viel über die Urheber aus.
Neben den großen Architekturen haben ihn auch die kleinen mit ihrer sozialen Interdependenz interessiert. Legendär ist seine seit 1978 fotografierte Serie von wartenden Menschen an Haltestellen. Und das in vielen Ländern und mit vielen Mikroarchitekturen, nicht nur in Europa, sondern von Argentinien und Neu Zeeland bis zu den Seychellen und an viele andere Orte. Das war schon fast eine soziologische Felduntersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Äpfel und Birnen. Höhepunkt war sicher ein Vergleich des öffentlichen Raums von Pjöngjang in Nordkorea und Seoul im Süden. Das zeigte Verbindendes und Trennendes zugleich und war ein Spiegel der Situation des geteilten Landes. Gezeigt 2013 im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt und als Buch erschienen, das umgehend vergriffen war. Ein repräsentativer Ausschnitt des gesamten Langzeitprojekts der Haltestellen erschien dann 2019 in der avedition in Stuttgart.
Der Mensch und seine Gehäuse, besser die verschiedenen Menschen und ihre verschiedenen Gehäuse, das könnte man als Nukleus seines Interesses identifizieren. Dieter Leistner ist viel und gerne gereist. „Da wundere ich mich manchmal, was es so alles gibt auf der Welt.“ Dieter Leistner konnte staunen, was ja bekanntlich der Beginn nicht nur von Kunst ist. Für Platon war das Staunen der Anfang aller Philosophie.
Vor allem der Mensch stand dabei für ihn im Mittelpunkt. Das traf auch für seine Tätigkeit als Hochschullehrer zu. Leistner war von 1983 bis 1995 Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Dortmund und hat eine ganze Generation von erfolgreichen Architekturfotografen und – fotografinnen hervorgebracht. Dazu hatte er zum Ende seiner Dortmunder Tätigkeit eine Ausstellung und ein Buch organisiert. So haben wir uns vor 30 Jahren kennengelernt, denn der Verleger Bertram Schmidt-Friderichs in Mainz hatte mich gefragt ob ich dazu nicht ein paar Texte über die Arbeiten der jungen Fotografinnen und Fotografen liefern könnte. Dieter Leistner hat mich dann in seinen Volvo geladen und wir haben eine Tour durchs Ruhrgebiet zu allen Teilnehmern gemacht. „Du musst die doch kennenlernen, sonst kannst Du nichts Richtiges über die schreiben“, so sein Kommentar. Da hatte er Recht. Und es war eine wunderbare Reise durch viele Ateliers junger begeisterter Fotografinnen und Fotografen. Außer mir Jungsporn wusste er aber auch sehr viel bedeutendere Autoren für seine Bücher zu finden wie Freddy Langer von der FAZ, Marlene Schnelle-Schneyer oder später Klaus Honnef sowie Herausgeberinnen wie Kristin Feireiss vom Architekturforum Aedes in Berlin.
Aber auch zunächst wenig Bekanntes stand auf seinem Programm. Schon 1985 hatte er die sozialen Wohnbauten des Neuen Frankfurts aus den 1920er Jahren fotografiert, die damals noch kaum jemanden interessierten. Das holistische Großprojekt für den Neuen Menschen ist heute weithin anerkannt und bewirbt sich um den Status eines UNESCO Welterbes. Sein Engagement ging nicht zuletzt auch um die gesellschaftliche Anerkennung von Fotografie und Fotografinnen und Fotografen. 1993 wurde er in den Vorstand des Bundes Freischaffender Fotodesigner (BFF) gewählt, 1994 in die Deutsche Gesellschaft für Photographie (DGPh) und in den Art Directors Club (ADC) New York berufen. Da hat er jeweils durchaus ein Wort zu führen gewusst. An der FH Dortmund hat er die „Tage der Architekturphotographie“ ins Leben gerufen. Im architekturbild e.v. war er langjähriges Mitglied und Teil des zeitweise existierenden Beirats.
Von 1999 bis 2018 war Dieter Leistner dann ordentlicher Professor für Fotografie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Da gab es in seinen Unterrichtsräumen eine Café-Bar mit professioneller Espressomaschine als Treffpunkt am alten Standort einer ehemaligen Autowerkstatt und später eine Profiküche im Neubau der Schule für ausführliches gemeinsames Kochen und Feiern. Wie er das den Finanzbeamten der bayrischen Baubehörde beigebracht hätte: „Ganz einfach, wir haben gesagt, dass wir hier auch Food-Fotografie unterrichten.“ Die gab es dann allerdings nie. Freundliche Strategie, die vor allem der Atmosphäre im Studium galt. Gemeinsames Kochen und Zusammensein über die Unterrichtszeit hinaus, hat die Studierenden zusammengebracht, Diskussionen und Austausch ermöglicht und so eine produktive Arbeitsatmosphäre geschaffen. Für Leistner endete sein Deputat nicht nach 18 Semesterwochenstunden, sondern war eine Fulltime-Angelegenheit.
Jedes Jahr fuhr er mit seinen Studierenden ins Kloster Windberg in Niederbayern zum Fotoworkshop, bei dem immer wieder auch bekannte Kollegen eingeladen waren. Eine Klausur, bei der auch andere Positionen zur Architektur vermittelt wurden. Kein egozentrischer Professor war Dieter Leistner, der nur seine Sicht der Dinge vermittelte wie so viele andere Kollegen, sondern ein Türöffner für viele Gestaltungsmöglichkeiten. Wessen Talent er erkannte und fördern konnte, ihn oder sie hat er nachhaltig unterstützt und auf dem Weg begleitet. Ein Professor alter Schule ohne Allüren und pseudointellektuellem Gehabe. Seine Kommentare bei Korrekturen waren knapp. Wenn es noch nicht so richtig etwas war, hieß es einfach „da musst Du wohl nochmal hinfahren“ Vier minus. Aber nicht Setzen! sondern weitermachen. Dabei war er im Unterricht immer zielgerichtet und mit großem Erfahrungsschatz, den er gerne und selbstlos weitergab.
Anerkennung ist ihm nicht verwehrt geblieben. Ausstellungen im Foto Forum International, im Museum Angewandte Kunst und im Jüdischen Museum in Frankfurt, in der Kunsthalle Hamburg, im Architekturmuseum Moskau, in der Neuen Sammlung in Nürnberg oder auch im kirgisischen Nationalmuseum in Bishkek. Und dann noch 1995 der Kodak Photobuchpreis und der Preis des Art Directors Club New York, 1998 der Award of the 8th International 5 Photographic Art Exhibition Peking, der Kodak Kalender-Preis, der Preis des Type Director Club New York und manches mehr. Dieter Leistner war kein Starfotograf und wollte es auch nicht sein. Er hätte sich eher darüber lustig gemacht, wenn man ihm so gekommen wäre. Aber er war für viele ein Freund, auf den man sich verlassen konnte und der sich kümmerte. In guten, wie in schlechten Zeiten. Auf seine Arbeit hat er stets mit Understatement reagiert. „Ich hab‘ das dann halt so geknipst.“
Ein großer Fotograf und ein großartiger Mensch, der viel zu früh gestorben ist.